So reibungslos, wie der formelle Umstieg vom Studenten in Dortmund zum wissenschaftlichen Mitarbeiter in Essen verlief, so reibungslos gelang mir auch die Einarbeitung in neue Themen und die Einstellung auf die neue Umgebung. Da Unis in einigen Punkten eben doch überall gleich sind, war die Umstellung auch nicht ganz so groß, zumal ich als Promotionsstudent auch nicht völlig das Studentendasein verlassen musste. Außerdem merkte ich ziemlich schnell, dass ich zwar formell zum Fachbereich Wirtschaftswissenschaften gehöre, mich aber trotzdem voll und ganz in der Informatik und dort insbesondere in der Softwaretechnik austoben darf. Wie erhofft, haben die klassischen Aufgaben der Universität, nämlich Forschung und Lehre, in meinem Arbeitsalltag meistens das ideale Verhältnis zueinander und neben der Theorie kommt auch die praxisorientierte Softwareentwicklung nicht zu kurz.
Ich hatte das Glück, relativ schnell ein Forschungsthema zu finden, in dem ich eigene Ideen entwicklen, diese auch praktisch zum Einsatz bringen und letztlich meine Dissertation schreiben konnte: Die automatische Korrektur von Übungs- und Prüfungsaufgaben. Mein Fokus liegt dabei nicht auf klassischen Aufgabentypen wie Multiple Choice oder Fill-In, sondern auf komplexeren Aufgaben wie Programmierübungen oder Modellierungsaufgaben. Die sind deswegen spannend, weil die Menge der richtigen Lösungen dabei prinzipiell unbeschränkt ist. Die Software kann also nicht einfach schauen, ob die abgegebene Lösung mit einer gegebenen Musterlösung (oder einer von mehreren) identisch ist, sondern muss gezielt nach Merkmalen suchen, die die Lösung als richtig oder falsch charakterisieren. Ein besonderer zusätzlicher Aspekt ist, dass die gefundenen Erkenntnisse auch noch in Form von verständlichem Feedback an die Autoren der Lösungen zurückgegeben werden sollen, damit sie aus ihren Fehlern lernen können. Die Techniken, die bei der Analyse der Lösungen zum Einsatz kommen, gehören in verschiedene Bereich der Informatik - von Mustersuche in attributierten Graphen bis hin zum Trace-Alignment aus der Bioinformatik - und sind als solche nicht nur für die Analyse von Übungsaufgaben, sondern auch ganz allgemein von Softwaresystemen geeignet. Das Prüfungssystem wird schließlich noch (wie die meisten Entwicklungen unserer Arbeitsgruppe) in ein verteiltes System verpackt, damit es in seinem Einsatzbereich schön flexibel ist, so dass ich außerdem noch ganz schön oft mit Systemarchitekturen befassen durfte. Glücklicherweise entwickeln einige Kollegen aus unserer Arbeitsgruppe seit Anfang 2012 ebenfalls an Erweiterungen desselben Systems für das Fach Mathematik, so dass wir uns gegenseitig fachlich austauschen können und die Entwicklungsarbeit am System auf mehrere Schultern verteilt wird. Eine Demo-Version unseres Systems gibt es natürlich auch: http://jack-demo.s3.uni-due.de.
Ein völlig anderes aber genauso interessantes Thema kam ab ca. 2010 hinzu, das sich hinter der Abkürzung SEMAT versteckt. Im Großen und Ganzen geht es dabei um Methoden und Theorien des Software Engineering Managements, d.h. um die Frage, was Software Engineering eigentlich ausmacht und wie man verschiedene Methoden theoretisch fundiert beschreiben und analysieren kann. Als einen konkreten Schritt auf diesem Weg erarbeiteten wir eine Beschreibungssprache, die über die OMG unter dem Namen "ESSENCE" standardisiert wurde und damit als allgemein akzeptierte Grundlage für die Beschreibung von Methoden des Software Engineering dienen soll. Sowohl die Arbeit an einem solchen Standardisierungsprojekt als auch die Arbeit in einem internationalen Team ist sehr spannend, aber auch herausfordernd. Regelmäßige Telefonkonferenzen mit Beteiligten rund um den Globus gehören dabei genauso dazu wie Dienstreisen in Europa oder nach Amerika.
Allerdings haben wir nicht den ganzen Tag Zeit für die Forschung und lange Reisen, denn auch die Lehre soll ja ihren berechtigten Platz im Wochenplan finden. Während meiner eigenen Studentenzeit hatte ich nie als Tutor Übungsgruppen oder ähnliches geleitet, aber trotzdem hat mir diese Tätigkeit im Beruf von Anfang an großen Spaß gemacht und ich konnte mir auch nur schwer vorstellen, mal ein Semester lang nichts mit Lehre zu tun zu haben - in meiner Elternzeit habe ich dann aber doch ein wenig kürzer getreten. Das Tätigkeitsspektrum rund um die Lehre ist auch ziemlich groß: Übungszettel entwerfen, Vorlesungsfolien entwerfen, Klausuraufgaben entwerfen, Übungen durchführen, Emails aller Art beantworten, Klausuren beaufsichtigen, Prüfungsbeisitz, Klausuren korrigieren und inzwischen mehr oder weniger häufig auch mal selber Vorlesungen halten. Solange die Studierenden nicht zu auffällig desinteressiert gähnen, macht auch das eine Menge Spaß. Dazu kommt dann noch die Betreuung von Studien- und Abschlussarbeiten aller Art, mit allem was an Höhepunkten und Tiefpunkten dazu gehört, von wunderbar selbständig durchgeführten Arbeiten bis hin zu völlig hilflosen Studierenden, die zum ersten Mal in ihrem Leben einen Text von mehr als ein paar Seiten Länge abfassen müssen.
Selber darf und muss ich natürlich auch immer wieder Texte schreiben, in denen wir der Fachwelt unsere neuesten Forschungsergebnisse vorstellen. Dazu muss man seine Werke aber erst einmal durch den Review-Prozess einer passenden Konferenz bringen. Das ist nicht immer einfach und manchmal sind negative Review-Kommentare ganz schön deprimierend, aber wenn es dann geklappt hat, wird man meistens mit ein paar Tagen in einer schönen Stadt (Toulouse, Lissabon, Valencia) belohnt - oder zumindest einer abenteuerlichen Reise mit Linienbus und Regionalzug vom Flughafen zum Konferenzort (Leicester, München-Garching). Darüber hinaus sind Konferenzen natürlich vor allem eine gute Gelegenheit um festzustellen, wie andere Leute die eigene Arbeit beurteilen, sich selber ein direktes Bild von der Forschung an anderen Orten zu machen und außerdem Kontakte aller Art zu knüpfen. Und gutes Essen gibt es auch immer, zumindest wenn man das traditionelle Konferenzdinner mit gebucht hat, das im übrigen vorzugsweise in Schlössern oder an anderen illusteren Orten stattfindet.
Und wenn man gerade nicht mit Lehre, Forschung oder Dienstreisen beschäftigt ist, wird einem an der Uni trotzdem nicht langweilig. Schließlich gibt es noch die allseits beliebte Bürokratie (Dienstreiseanträge, Dienstreiseabrechnungen, Forschungsanträge, Forschungsberichte, ...), universitätsübergreifende Arbeitskreise und haufenweise Kommissionen und sonstige Institutionen der universitären Selbstverwaltung, von denen ich zumindest mit einigen bisher kaum etwas zu tun hatte, so dass ich vermutlich schon aus purer Neugier noch ein paar Jahre an der Uni bleiben werde. Und auch wenn ich mein Ziel verwirklichen möchte, eines Tages als Professor dauerhaft an einer Uni zu bleiben, muss ich mich noch mindestens zwei Kommissionen stellen: Einer Habilitationskommission und einer Berufunfskommission.